Fehler kommen vor, auch beim Finanzamt. Dann wird eine zu hohe Nachzahlung berechnet, die der Steuerpflichtige zunächst nicht zahlen kann oder möchte. Er hat jedoch die Möglichkeit, zusammen mit einem Einspruch, die sogenannte Aussetzung der Vollziehung zu beantragen und somit die fällige Steuer bis zur Klärung des Sachverhaltes nicht zahlen zu müssen. Doch das gibt es nicht umsonst. Bekommt der Steuerpflichtige nicht Recht, fallen Zinsen für den offenen Steuerbetrag an (sog. AdV-Zinsen). Der Zinssatz beträgt aktuell 0,5 Prozent pro vollen Monat, d. h. 6 Prozent pro Jahr.
Steuerpflichtige, bei denen sich eine Nachzahlung aus ihrem Steuerbescheid ergibt und deren Zinslauf bereits begonnen hat, zahlen demgegenüber nur 0,15 Prozent pro Monat, d. h. 1,8 Prozent Zinsen pro Jahr. Das fand nicht nur der Steuerpflichtige im Streitfall ungerecht, sondern auch der Bundesfinanzhof (BFH). Daher hat der BFH das Bundesverfassungsgericht angerufen (BVerfG, Vorlagebeschluss vom 8. Mai 2024, VIII R 9/23) und um eine Entscheidung gebeten, ob die aktuelle Rechtslage verfassungsgemäß ist.
Zinsen sind nicht gleich AdV-Zinsen
Im deutschen Steuerrecht gibt es verschiedene Verzinsungstatbestände, beispielsweise die Verzinsung von Steuernachforderungen und Erstattungen, Stundungszinsen und Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung (AdV). Bei einer Aussetzung der Vollziehung setzt die Finanzbehörde die Vollziehung der fälligen Steuern auf Antrag des Steuerpflichtigen ganz oder teilweise aus. Das ist wichtig, denn ein Einspruch oder eine Klage bewirken nicht, dass die Fälligkeit der Steuerzahlung gehemmt wird.
Die AdV bewirkt also, dass die Finanzbehörde vorläufig nicht mehr vollstrecken darf. Dem Steuerpflichtigen droht bei endgültigem Misserfolg des Rechtsbehelfs für die Dauer der Aussetzung der Vollziehung und in Höhe des ausgesetzten Betrags nur die Belastung mit AdV-Zinsen. Durch die spätere Zahlung steht der geschuldete Betrag (wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vorausgesetzt) länger zur Verfügung und kann zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil genutzt werden. Vorrangiger Zweck der AdV-Zinsen ist es daher, diesen Liquiditätsvorteil in typisierter Höhe abzuschöpfen.
Bundesverfassungsgericht erneut angerufen
Das Bundesverfassungsgericht musste sich 2021 schon einmal mit der Frage des Prozentsatzes für die Verzinsung im Steuerrecht befassen (Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14). Damals ging es um den Zinssatz für Steuererstattungen und -nachzahlungen. Das BVerfG hat die Zinsberechnung für Zeiträume ab 2014 wegen der nachhaltigen Absenkung des allgemeinen Zinsniveaus für verfassungswidrig erklärt und der Gesetzgeber musste rückwirkend zum 1. Januar 2019 eine Neuregelung schaffen.
Das BVerfG hat in seiner damaligen Entscheidung die Verfassungswidrigkeit ausdrücklich nicht auf andere Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung ausgedehnt. Den Zinssatz für die Zinsen bei AdV und die anderen Verzinsungstatbestände hat der Gesetzgeber daher nicht angepasst. Seit dem 1. Januar 2019 gelten somit unterschiedliche Zinssätze für die Vollverzinsung und die anderen Zinstatbestände, einschließlich der Zinsen bei AdV.
Gleiches gleich behandeln
Jedoch verpflichtet der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes den Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt. Der Gesetzgeber muss daher realitätsgerecht den typischen Fall als Leitbild zugrunde legen.
Gesetzesbegründung überzeugt BFH nicht
Im Rahmen der Neuregelung hat der Gesetzgeber jedoch mit voller Absicht die Senkung des Zinssatzes nur für Nachzahlungs- und Erstattungszinsen vorgenommen. Begründung war, dass die die Aussetzung der Vollziehung und damit die Entstehung von Zinsen grundsätzlich auf einen Antrag der Steuerpflichtigen zurückzuführen ist. Steuerpflichtige haben daher, anders als bei der Vollverzinsung, grundsätzlich die Wahl, ob sie AdV beantragen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen.
Diese Begründung überzeugt den BFH nicht und kann nach seiner Ansicht die unterschiedlichen Zinssätze bei AdV-Zinsen und Nachzahlungszinsen nicht rechtfertigen. Es trifft nach Ansicht des BFH nicht zu, dass Steuerpflichtige keinen Einfluss darauf haben, ob und in welcher Höhe Nachzahlungszinsen entstehen. Nachzahlungszinsen können beispielsweise vermieden werden, indem die Höhe der Steuervorauszahlungen auf Antrag nach oben angepasst wird, freiwillige Zahlungen erbracht werden oder indem die Steuerpflichtigen ihren Mitwirkungspflichten zeitnah nachkommen.
Zwar können Steuerpflichtige beeinflussen, ob AdV-Zinsen entstehen. Sie entscheiden grundsätzlich frei, ob sie die AdV beantragen oder ob sie den geschuldeten Betrag sofort entrichten. Dabei handelt es sich jedoch, ungeachtet des Umstands, dass diese Optionen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen nicht allen Steuerpflichtigen jederzeit offenstehen, um Ausweichoptionen. Ausweichoptionen beseitigen nach Ansicht des BFH eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung aber grundsätzlich nicht.
Andere gewichtige Gründe für die Beibehaltung des Zinssatzes von 0,5 Prozent pro Monat für AdV-Zinsen sind für den BFH nicht ersichtlich. Auch der Umstand, dass das BVerfG seinen Beschluss zur Vollverzinsung nicht auf die anderen Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung erstreckt hat, führt zu keiner anderen Beurteilung. Das BVerfG hatte in seinem damaligen Urteil lediglich angemerkt, dass die anderen Verzinsungstatbestände eigenständig verfassungsrechtlich beurteilt werden müssten. Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes für die AdV sind dem Beschluss des BVerfG zur Vollverzinsung nicht zu entnehmen.
Rechtschutz darf nicht von Finanzkraft abhängen
Der BFH führt noch ein weiteres Argument für die Verfassungswidrigkeit an. Die hohen Zinssätze für AdV-Zinsen könnten Steuerpflichtige aus finanziellen Gründen davon abhalten, ihre Rechte gegenüber der Finanzverwaltung durchzusetzen. Auf diese Weise beschränkt die Zinshöhe den Zugang zu effektivem Rechtsschutz zumindest mittelbar. Dies hat in der Vergangenheit zur Überzeugung des BFH dazu geführt, dass AdV aus wirtschaftlichen Gründen vielfach nicht mehr in Anspruch genommen worden ist, auch wenn die Voraussetzungen dafür vorgelegen haben.
Empfehlung: Betroffene Steuerpflichtige sollten gegen die Höhe des Zinssatzes mit Hinweis auf das anhängige Verfahren Einspruch einlegen und die Fälle offenhalten, um von einer eventuell günstigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu profitieren.